Zum ersten Mal haben Forscher untersucht, wie die Schweiz bei der Internetsicherheit im Vergleich mit anderen Staaten abschneidet. Das Resultat ist alarmierend. Eines der grössten Probleme ist Cybermobbing. Versagt die Prävention?
Das Handy vibriert, auf dem Bildschirm erscheint die Nachricht: «Ich habe deine privaten Bilder gefunden. Nimm dich in acht, du Dreckstück.» Von solchen Mobbing-Attacken im Internet sind Schweizerinnen und Schweizer stärker betroffen als die Bürger sämtlicher EU-Länder. Das zeigt eine neue Untersuchung, die das Bundesamt für Statistik am Dienstag veröffentlicht hat. Es ist das erste Mal, dass die Schweiz einen internationalen Vergleich im Bereich Internetsicherheit zieht.
Die Ergebnisse lassen nicht nur beim Cybermobbing aufhorchen. Schweizerinnen und Schweizer sind auch deutlich stärker von Identitätsdiebstahl, Hacking von Profilen auf Social Media oder dem Verlust von Dokumenten wegen Viren betroffen.
Weil hierzulande öfter im Internet gesurft wird als im Schnitt der EU-Länder, haben die Forscher auch einen Vergleich zu Dänemark gezogen, wo die Bevölkerung etwa gleich oft online ist. Wieder lag der Anteil der Betroffenen in der Schweiz bei fast allen Sicherheitsproblemen deutlich höher.
Für die Unterschiede bei Identitätsdiebstahl oder Hacking hat das Bundesamt für Statistik (BfS) einen Erklärungsansatz. Die Daten wurden im Frühling 2019 erhoben. Nur wenige Wochen zuvor hatten die Schweizer Medien über ein riesiges Datenleck berichtet, bei dem unzählige gestohlene Logins auftauchten. Dadurch dürften viele für das Problem sensibilisiert worden sein. Beim Cybermobbing greift diese Erklärung nur teilweise.
Rund 4 Prozent der Bevölkerung zwischen 16 und 74 Jahren wurden innert nur eines Jahres Opfer von Cybermobbing. Das sind rund 260 000 Personen. In Dänemark ist nur rund 1 Prozent der Bevölkerung betroffen. BfS-Forscher Yves Froidevaux sagt, dass auch Cybermobbing mit Datenlecks zu tun haben könne: «Wenn jemand Zugang zu all Ihren persönlichen Inhalten auf Social Media hat, kann er Sie damit auch online erpressen.» Trotzdem haben er und seine Kollegen keine abschliessende Erklärung dafür, dass Schweizer stärker betroffen sind: «Das ist für uns eines der erstaunlichsten Ergebnisse der Untersuchung.»
Fall Céline: Suizid nach Cybermobbing
Spätestens vor drei Jahren wurde das Problem Cybermobbing schweizweit bekannt. Damals traten die Eltern von Céline, einem 13-jährigen Mädchen, das sich das Leben genommen hatte, an die Öffentlichkeit. Céline war vor ihrem Suizid via Smartphone bedroht und beschimpft worden. Ein 14-Jähriger hatte das Mädchen wiederholt aufgefordert, ihm erotische Fotos zu schicken. Er drohte damit, andere Bilder, die sie ihm bereits geschickt hatte, zu veröffentlichen. Lange wurde spekuliert, ob das Cybermobbing Céline in den Suizid getrieben habe. Vor rund einem Monat kam das Jugendgericht Dietikon jedoch zum Schluss, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Bestraft wird der heute 17-jährige Täter trotzdem – wegen Nötigung und pornografischer Selbstaufnahmen, die er verschickt hatte.
Mobbing – und damit auch Cybermobbing – betrifft Kinder und Jugendliche stärker als Erwachsene. 2018 gaben bei der James-Studie, die den Umgang von Schweizer Jugendlichen mit Medien untersucht, 23 Prozent der 12- bis 19-Jährigen an, dass sie schon einmal jemand im Internet habe fertigmachen wollen. Der Anteil der Betroffenen ist also deutlich höherer als in der BfS-Studie, bei der auch bis zu 74-Jährige befragt wurden.
Eine einheitliche Definition von Cybermobbing gibt es nicht. Mit dem Begriff können regelmässige Beleidigungen über Whatsapp gemeint sein, aber auch Erpressungen oder Drohungen im Netz. Die BfS-Forscher knüpfen Mobbing eng an den Missbrauch persönlicher Daten. Auch das erklärt, warum ihre Zahlen tiefer ausfallen als die der James-Studie.
Jugendliche lernen Zivilcourage in der Schule
Hat die Schweiz bei der Prävention von Cybermobbing Nachholbedarf? Simona Materni, stellvertretende Geschäftsleiterin der Schweizer Kriminalprävention, verneint dies. Besonders Kinder und Jugendliche würden ausreichend für das Problem sensibilisiert: «In den Schulen werden Medien- und Sozialkompetenz heute schon früh trainiert.» Auch Zivilcourage sei ein Thema. «Das ist zentral, weil es meist Mitwissende gibt.» Die polizeilichen Jugenddienste unterstützen Lehrpersonen, Schulleitungen und Eltern im Umgang mit Fällen von Cybermobbing. Dabei geht es laut Materni weniger darum, Anzeigen aufzunehmen, als um eine Aufarbeitung mit der ganzen Klasse.
Im Fall Céline sprachen die Richter nicht von Cybermobbing, denn einen solchen Straftatbestand gibt es in der Schweiz nicht. Die Eltern des verstorbenen Mädchens setzen sich nun dafür ein, dass sich dies ändert. Einige Länder, darunter Österreich, haben in den letzten Jahren einen entsprechenden Paragrafen eingeführt. Materni glaubt jedoch nicht, dass mit einem neuen Straftatbestand die Zahl der Fälle in der Schweiz abnehmen würde. Mobbing sei bereits heute online genauso verboten wie offline: «Entsprechende Handlungen sind durch Straftatbestände wie Drohung, Nötigung oder Beschimpfung abgedeckt.»
Während die Jugendlichen oft im Fokus stehen, machen die Erwachsenen der Polizei und der Kriminalprävention mittlerweile fast mehr Sorgen. Materni erklärt: «Manche Erwachsene realisieren nicht, dass beispielsweise das Erpressen oder Bedrohen von Ex-Partnern im Internet auch strafrechtliche Konsequenzen haben kann.»
quelle: 08.04.2020 www.nzz.ch
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